Ich habe heute außer einen Bibeltext auch ein Bild mitgebracht. Vor drei Jahren besuchte ich in den Kunstsammlungen Chemnitz die große Werkschau des Künstlers Karl Schmidt-Rottluff da sah ich dieses Bild einen Holzschnitt - es sprang mich an wie ein Schrei! Es hat mich gerüttelt und geschüttelt und erscheint seit dem immer wieder vor meinem inneren Auge. Es treibt mich um, bewegt mich. Ein zersplittertes, zerissenes Gesicht, ein Christusportrait. Ein Auge geschlossen vor Leid, ein Auge prophetisch weit geöffnet. Auf der Stirn wie ein Mal die Jahreszahl 1918.
Am unteren Rand der Schrift: “Ist euch nicht Kristus erschienen”.
Der Holzschnitt gehört zu einer Mappe von 9 Holzschnitten, die 1918 im Kurt Wolff Verlag Leipzig erschienen. Karl Schmidt Rottluff war Soldat im ersten Weltkrieg. Die 9 Holzschnitte mit Szenen aus dem Leben Jesu, entstanden noch während seiner Stationierung in Litauen. Sie entstanden als unmittelbare Reaktion auf seine Erfahrungen des Krieges, auf diese Katastrophe seiner Generation.
Später wurden Karl Schmidt-Rottluffs Werke als “Entartete Kunst” verfemt, er erhielt Arbeitsverbot. Für ihn eine persönliche Katastrophe; innerhalb der großen Katastrophe des Volkes.
Ist euch nicht Kristus erschienen?
Es ist November in Deutschland. Da häufen sich die Gedenktage. Heute ist der 11. November, im Wald von Compiengne trafen sich gestern Staatsfrauen und -männer, dem Ende des ersten Weltkriegs und seinen Opfern zu gedenken. Heute vor genau 100 Jahren, morgens um fünf, wurde dort der Waffenstillstand unterzeichnet.
Denken wir daran?
Gedenken wir an die Millionen Toten, an die Millionen Toten der spanischen Grippe ab 1918, an den Beginn des 30 jährigen Kirchenkrieges vor 400 Jahren, dessen Folge eine umfangreiche Neuordnung Europas war, die bis heute nach wirkt?
Gedenken wir der brennenden Synagogen von 1938, der brennenden Bücher und Menschen?
Verharren wir in Gedenken?
Schauen wir voraus?
Lernen wir daraus?
1918 – Der große Krieg war beendet, die Ur-Katastrophe des 20. Jahrhunderts.
Die Ur-Katastrophe?
Hat nicht jeder Generation ihre eigene oh Katastrophe?
“Ist euch nicht Kristus erschienen?”
Nein, noch nicht.
Ich lese aus MISCHA, Kapitel sieben, Verse 1-7 nach der guten Nachricht – Bibel.
«1 Weh mir! Es ist mir ergangen wie einem Hungernden, der im Spätherbst Weinstöcke und Feigenbäume absucht: Keine Traube mehr zu finden, keine Spur mehr von den köstlichen Feigen! 2 Im ganzen Land gibt es keinen redlichen Menschen mehr, niemand, der Gott die Treue hält. Sie schrecken nicht vor Mord und Totschlag zurück und stellen sich gegenseitig Fallen. 3 Sie sind voll Eifer, wenn es gilt, Böses zu tun; darauf verstehen sie sich. Die Beamten schrauben die Abgaben in die Höhe; die Richter geben dem Recht, der ihnen am meisten zahlt; die Mächtigen schalten nach ihrer Willkür. So drehen sie gemeinsam dem Volk einen Strick. 4 Noch der Beste und Anständigste von ihnen ist schlimmer als eine Dornenhecke. Aber der Tag der Abrechnung ist da, eure Warner haben ihn vorausgesagt. Dann werdet ihr nicht mehr aus noch ein wissen. 5 Traut niemand, nicht dem Nachbarn, nicht dem besten Freund! Hütet eure Zunge, selbst vor der Frau, die ihr liebt! 6 Es ist so weit gekommen, dass der Sohn verächtlich auf den Vater herabsieht, die Tochter sich der Mutter widersetzt und die Schwiegertochter der Schwiegermutter. Ein Mann hat seine Feinde jetzt im eigenen Haus. 7 Ich aber schaue aus nach dem HERRN, ich warte auf den Gott, der mir hilft. Mein Gott wird mein Rufen erhören.»
Dieser Text ist nichts für zartbesaitete Gemüter, er ist schonungslos offen und: er ist alt!
Der Prophet MISCHA lebte als Zeitgenosse Jesajas. Und doch klingt sein Wort wie eine Beschreibung des Zustandes der Gesellschaft in unseren Tagen
– oder wie ist aus den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts
– oder wie aus der Zeit des 30-jährigen Krieges
– oder…
Jede Generation hat ihre Katastrophen. Hier tritt der Prophet Micha auf. Mit der Vollmacht eines echten Propheten. Und analysiert schonungslos die Zustände in Israel, als unmittelbare Reaktion auf die Erfahrung seiner Zeit. Die Bosheit ist überall zur Normalität geworden und der Beste ist immer noch schlecht genug. Menschen die an Gott glauben und mit ihm leben sind weit seltener zu finden als Trauben bei der Nachlese oder Frühfeigen.
Der Weinstock ist seiner Trauben beraubt
– waren nicht mein Vati und mein Schwiegervati in Gefangenschaft nach dem zweiten Weltkrieg
– danach ist der eine verstummt
– der andere verlor seinen Glauben
Der Weinstock ist seiner Trauben beraubt
Die (hier: israelische) Gesellschaft ist moralisch degeneriert. Die alten Tugenden Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit sind verschwunden. Stattdessen herrschen Verbrechen, Raub und die böse Absicht, den Nachbarn zu übervorteilen.
Und es ist an der Zeit, dass jeder Mensch ausreichend Lohn für ehrlicher Arbeit erhält.
Wo das aus bleibt, werden vor allem die Spannungen wachsen.
Keiner schreckt vor Mord und Todschlag zurück.
Es herrscht Krieg.
Was nützt ein volles Portmonee, wenn jeder Euro in Angst ausgegeben wird und alle Lebensfreude aufgezehrt ist.
Alle sind eifrig dabei, ihren Lebensunterhalt durch Unrecht zu verdienen. International agierende Großkonzerne privatisieren Wasserquellen mit dramatischen Folgen für die Bevölkerung: Preisanstiege, Verschlechterung der Wasserleitung, Verwerter Zugang.
Gesundes, sauberes Wasser ist Macht.
Besitzgier reagiert. Mächtige Reiche beuten Arme und Hilflose immer weiter aus. Herrscher und Richter lassen sich durch Bestechungsgelder zum Schweigen bringen, so dass die reichen Kriminellen sich sogar noch ihren Schutz erkaufen können. Die Regierenden fressen voller Selbstsucht ihr Volk, anstatt es zu schützen.
Die Propheten ermahnen und warnen ihre abtrünnigen Landsleute umsonst. Die untreu gewordenen Gläubigen stehen vor ihrem Leben wie vor einem Feld, das vollständig abgeerntet ist. Die Katastrophe steht vor der Tür.
Damals, in der Zeit Michas und Jesajas für das Volk Israel. Später und jetzt für alle untreu gewordenen Gläubigen … und alle, die nichts vom Glauben wissen wollen.
Micha 6:8 (GNB)
8 Der HERR hat dich wissen lassen, Mensch, was gut ist und was er von dir erwartet: Halte dich an das Recht, sei menschlich zu deinen Mitmenschen und lebe in steter Verbindung mit deinem Gott!
Halten sich die Menschen daran?
Kreuzzüge fanden statt, einher gehend mit übelsten Gewalttaten, Hungersnöten und Seuchen.
– Katastrophe –
Der 30-jährige Krieg forderte Millionen Menschenleben, die genaue Zahl kennt kein Mensch. Es wurde gefoltert, gebranntschatz, vergewaltigt; Seuchen und Hungersnöte im Gefolge.
– Katastrophe –
Im 20. Jahrhundert fanden zwei Weltkriege statt. Millionen Menschen kamen um, erschossen, in Schützengräben zerrissen, im Luftschutzkeller erstickt, verschüttet, vergast. Nur Gott kennt ihre Zahl
– Katastrophe –
Und heute? Aktuelle Verteilungskämpfe, die Gier internationaler Konzerne und moralischer Verfall stürzen halbe Kontinente in Krieg und Elend, Seuchen und Hungersnöte.
– Hungersnöte –
Die Menschen, wir Menschen, wissen nicht aus noch ein. Wir haben verloren, das Gericht Gottes erreicht uns. Wenn über einer Gesellschaft Gottes Gericht hinein bricht, ist das furchtbar.
– Katastrophe –
“Ist euch nicht Kristus erschienen?”
Nein, noch nicht!
Die allgemeine Schlechtigkeit geht soweit, dass niemand dem anderen trauen kann; nicht einmal den Mitgliedern der eigenen Familie. In der Folge zunehmender Ungerechtigkeit breitet sich Lieblosigkeit aus. Der Ton wird rauer, die Sitten werden härter, dass wegschauen nimmt zu. Wer nichts zu verlieren hat, hat auch nichts zu bewahren.
Die Familien und Freundschaften brechen auseinander. Voll Selbstsucht Frist jeder jeden in der Familie. Keiner achtet mehr den anderen und der moralischen Verfall erreicht seinen Höhepunkt. Das Strafgericht Gottes wird nicht ausbleiben. Es wird furchtbar sein in einer Gesellschaft, in der keiner mehr dem anderen trauen kann.
Ja, sind wir denn besser?
Auch wir zeigen mit Fingern auf „die da“, auf andere Christen, die Politiker, die Beamten, werten uns innerhalb unserer Familien und Gemeinden ab.
Rede ich nicht auch den Behörden nach dem Mund? Wende ich mich nicht auch dem Weg des geringsten Wiederstandes zu? Lebe ich nicht auch zu meinem Vorteil und mit meinen Vorurteilen? (Vielleicht) töte ich nicht mit dem Messer und Gewähr, aber doch mit Worten und Gesten. Ohne mir Gedanken zu machen, treffe ich damit meine Schwestern und Brüder mitten ins Herz. Täglicher Kleinkrieg und Mobbing bestimmen unseren Alltag.
Ohne eingebauten Microchip funktioniert scheinbar gar nichts mehr – vom Server intelligenter Waffensysteme (was für ein Begriff, nicht zu begreifen), bis zum Menschen. Künstliche Perfektionierung durch Digitalisierung. Weil es keinen Glauben mehr gibt, gibt es keine Hoffnung. Wir flüchten in Pseudowelten von Esoterik und Sucht.
Sucht – weil wir suchen und nicht finden.
“Ist euch nicht Krist es erschienen?”
So lapidar wendet sich Karl Schmidt-Rottluf an die Betrachters seines Christus-Portraits. Die Jahreszahl 1918 auf der Stirn wie ein Mal.
Jede/Jeder kann seine eigene Malzahl dort einsetzen.
Meine persönliche Malzahl wäre 1990
Ich weiß, ihr weltoffenen Plauener mit dem frei zugänglichen West-Fernsehen werdet es wahrscheinlich nicht verstehen, aber es ist so. Und hätte mich nicht Jesus gefunden, wäre ich heute vielleicht bei den Linken Autonomen …
Und so wie das Wort Michas in unserer Zeit wirkt, wirkt denn auch dieser Holzschnitt in die Gegenwart und darüber hinaus. Beides konfrontiert uns im Hören und im Sehen mit der Frage nach dem Fortbestand menschlicher Werte und ethischer Normen.
Der Prophet Micha bleibt (jedoch) nicht bei der Analyse der Zustände stehen, er zeigt den Ausweg auf:
Vers sieben:
«Ich aber schaue aus nach dem Herrn, ich warte auf den Gott, der mir hilft. Mein Gott wird mein rufen hören.»
Wie gut hat es doch der Glaubende, der weiß, dass sein Gott auch die auswegloseste Situation zum Guten wenden kann.
Jedoch: Wir sollten uns nicht zu sicher sein, zum “gläubigen Rest” zu gehören. Echter Glaube steht in Verbindung mit einem gottesfürchtigen Leben. Wir sind alle unrein und Sünder.
Wir sind uns unseres Wohlstandes zu sicher. Nicht können wir auf die Heilssicherheit pochen, es gibt keine Sicherheitsgarantie. Sie ist gegenstandslos, sobald das Volk nicht mehr den geraden Weg geht. Es ist Zeit, dass Menschen abgeben, die mehr haben und verbrauchen, als nachhaltig gut ist
Das anzuerkennen, befreit. Wir müssen nicht perfekt sein. Nachher werden wir am Abendmal still stehen. Wir alle sollen vorher in uns gehen. Gott gibt uns unsere Würde im Abendmahl. Wir verstehen sein Wort nur, wenn wir zugeben, dass wir nicht perfekt sind.
Der Prophet MISCHA verkündet wie auch Jesaja nach dem Gericht das kommende Friedensreich Gottes. Er verkündet einen neuen Heilskönig aus Betlehem, aus dem Geschlecht Davids (5, 1-14). Dann wird für ewig Frieden zwischen den Menschen und unter den Völkern herrschen.
“Ist euch nicht Kristus erschienen?”
Ja!
Der Christus im Holzschnitt von Karl Schmidt-Rottluff hat ein Auge geschlossen, zusammengepresst vor Leid. Das andere aber hat er prophetisch weit geöffnet und blickt dann mit in die Zukunft. Das sollten wir auch tun. Dann wird Christus uns die Zukunft bringen über alles Leiden hinaus.
«Wie die Leiden Christi reichlich über uns kommen, so werden wir auch reichlich getröstet durch Christus.» 2.Kor. 1,5
Amen